24.11.2022 07:00
Steinhaufen im Bodensee sind weiterhin ein Mysterium
Seit nunmehr sieben Jahren beschäftigt sich das Amt für Archäologie mit 170 Steinhaufen im Bodensee. Obwohl die Archäologie immer mehr weiss über die mit grosser Wahrscheinlichkeit von Menschenhand getätigten Aufschüttungen von Romanshorn bis Altnau, bleibt die wohl wichtigste Frage weiterhin unbeantwortet.
Kesswil Es ist nicht die erste Pressekonferenz, die das kantonale Amt für Archäologie im Zusammenhang mit den mysteriösen Steinhaufen im Bodensee veranstaltet. Und es wird mit Sicherheit nicht die letzte sein. Denn obwohl auch neue Funde darauf hindeuten, dass die Steinhaufen etwa 3500 vor Christus entstanden sind, ist es weiterhin ein Mysterium, wozu diese gebaut wurden.
«Was haben wir hier? Ein natürliches oder ein menschengemachtes Produkt?», sei die erste Frage gewesen, die sich nach dem Zufallsfund der Steinhaufen im Jahr 2015 gestellt habe, erzählt Archäologin Simone Benguerel letzten Donnerstag an der Medienkonferenz des Kantons in Kesswil. Die durch das Projekt «Tiefenschärfe» durchgeführte Tiefenvermessung des Bodensees mit verschiedenen technischen Hilfsmitteln, habe 170 hügelartige Strukturen in drei bis fünf Meter Wassertiefe entlang des südlichen Bodenseeufers zum Vorschein gebracht. Die Hügel sind mehrheitlich rund und haben einen Durchmesser von 10 bis 30 Metern. Und obwohl ihre erste Vermutung auf ein natürliches Phänomen hindeutete, ist Simone Benguerel heute anderer Meinung: «Wir haben bei 'Hügel 5' in Uttwil Holzstücke gefunden, die von Menschenhand bearbeitet wurden und wahrscheinlich etwa 5500 Jahre alt sind. Den endgültigen Beweis haben wir jedoch erst, wenn auch hier bei 'Hügel 115' und einem weiteren Hügel Beweise gefunden wurden.»
Wohl keine Pfahlbauten
Heute ist der letzte Tag, an dem das Tauchteam des Amtes für Archäologie des Kantons Thurgau vor Kesswil «Hügel 115» erforscht. Den Untersuchungen vorausgegangen ist eine Säuberung des Steinhaufens von Seegras durch die «Fondation Octopus» im Oktober sowie eine teilweise Ausgrabung durch einen Bagger in den letzten Wochen. Rund 100 Steine des Haufens wurden zudem zu Untersuchungszwecken an Land befördert. Doch durch den von einem Ponton aus betriebenen Bagger wurden auch andere Gegenstände freigesetzt, wie Archäologin Simone Benguerel erklärte: «Wir haben gestern ein Stück eines zugespitzten Pfahls geborgen. Und es sieht sehr danach aus, dass dieser mit Steinbeilen erzeugt wurde, sprich aus der Steinzeit stammt.»
Dass es sich beim gefundenen Pfahl jedoch um einen Bestandteil einer Pfahlbaute handelt, ist für die Archäologin sehr unwahrscheinlich: «Der Pfahl besteht aus einem Weichholz, das nicht für den Hausbau geeignet ist. Und die Pfahlbauer kannten ihre Hölzer doch sehr gut.»
Auch Archäologe Urs Leuzinger ist aufgrund der bisherigen Forschungsarbeiten der Überzeugung, dass die Steinschüttungen durch Menschenhand entstanden sind. Auch die Datierung passe fast zu gut, da gerade in diesem Zeitraum eine Forschungslücke von rund 150 Jahren bestehe. «Doch warum haben Menschen vor rund 5500 Jahren Steine im Uferbereich aufgeschüttet? Die Beantwortung dieser Frage ist noch immer ein Rätsel», erklärt der Archäologe. Es sei zwar wahrscheinlich, dass gerade in diesem Zeitfenster zwischen der Pfyner und Horgener Kultur der Pegel des Bodensees einige Meter tiefer war und somit die Steine damals in Ufernähe gesammelt wurden. Doch zu welchem Zweck, sei bis heute reine Spekulation.
Dass ein solches Unterfangen jedoch nur mit einer gewissen Organisation durchgeführt werden konnte, steht für den Archäologen ausser Frage: «Es brauchte eine Autorität, die sagte, das sei wichtig. Denn es muss ein starker Wille vorhanden gewesen sein, einen solchen Aufwand auf sich zu nehmen.» Und dieser Aufwand heisst in Zahlen ausgedrückt für «Hügel 5» das Aufschütten von rund 500 Tonnen Steinen, für alle 170 Hügel geschätzte 78'000 Tonnen. Das heisst, dass auf einer rund 10 Kilometer langen Strecke einmal über 60 Millionen Steine gesammelt und aufgeschüttet worden sind.
Kein zweites «Stonehenge»
Obwohl die Masse an Steinen äusserst eindrücklich ist, sind die Steinhaufen vom Bodensee doch kein zweites Stonehenge. Der Name «Bodensee Stonehenge» ist daher eine Marketingstrategie und keine wissenschaftliche Bezeichnung. Denn obwohl das weltbekannte Bauwerk, das im Süden Englands liegt, ungefähr das gleiche Alter hat wie die bisher untersuchten Steinhaufen im Bodensee, ist die Grösse der Bausteine doch sehr unterschiedlich. «Wir haben es hier nicht mit Megalithen, sondern mit Mikrolithen zu tun. Wir haben den Begriff 'Bodensee Stonehenge' von den Medien übernommen», informiert Urs Leuzinger.
Es könnte jedoch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Funden geben. Denn auch Stonehenge war nicht Teil einer Siedlung. «Wir haben bisher keinerlei Anzeichen, die auf einen Siedlungshügel hindeuten – weder Knochen, Steinwerkzeug oder Keramik. Daher ist ein kultischer Zusammenhang, vielleicht ein Totenritual, durchaus möglich.»
Pop-up Event in Arbon
Wer mehr über das «Bodensee Stonehenge» und über«Hügel 115» erfahren will, hat am 25. und 26. November in der Webmaschinenhalle von Werk 2 die Möglichkeit dazu. Am Standort, wo das neue Historische Museum des Kantons geplant ist, werden nicht nur die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse von Archäolog:innen präsentiert, sondern auch die Masterarbeit von Livia Enderli. In «Sunken landscape» wird den Besucher:innen ein ganz spezieller Blick auf die Steinhügel gewährt werden. Zudem sollen Besucher:innen einen eigenen Stein mitbringen, um gemeinsam «zu rhythmischen Pfahlbauklängen den 171. Hügel» in der Halle aufzuschütten. Und wer weiss – vielleicht helfen die Visualisierungen und der neue Steinhaufen jemandem dabei, dem Zweck der 170 mysteriösen Steinhaufen auf die Spur zu kommen.
Von David A. Giger
Weitere Informationen unter:
www.archaeologie.tg.ch