15.12.2022 07:00
Selbstbestimmung für alle
Am 8. Dezember spannten das Kino Roxy und der Verein Sabatina Schweiz zusammen, um ihren Beitrag für die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» zu leisten. Im Film «Nur eine Frau» und einem kurzen Referat wurde eindrücklich aufgezeigt, wieso diese Aktion auch in der Schweiz Sinn macht und nötig ist.
Romanshorn Am 10. Dezember endete die diesjährige Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen». Die von «cfd - Die feministische Friedensorganisation» ins Leben gerufene Aktion stand im Thurgau unter der Schirmherrschaft der Kantonspolizei. Mit dem Thema «Feminizid» wollte die Koordinationsstelle Gewaltprävention Schicksale von Migrantinnen in den Fokus rücken, die auch hier in der Schweiz mit furchtbaren Traditionen aus Ehrkulturen zu kämpfen haben.
Für Sela Esslinger, die Leiterin der Nothilfestelle des Vereins Sabatina Schweiz, war schon vor Beginn der Veranstaltung im Kino Roxy klar, dass der Abend ein Erfolg werden wird: «Als wir den Film das letzte Mal in einem kleinen Kino zeigten, hatten wir wegen Corona nur rund 20 Gäste. Heute haben wir jetzt schon über 100 Anmeldungen.» Ob jedoch deswegen nach dem Zeigen des Films im Kino Roxy eine Diskussion in Gang kommen werde, wage sie zu bezweifeln. Denn die Betroffenheit werde bestimmt auch heute gross sein: «Der Film ist unbequem und voller Widersprüche. Es wird also kein kuschelig romantischer Kinoabend.»
«Nur eine Frau»
Der auf einer wahren Geschichte basierte Film «Nur eine Frau» erzählt die Geschichte von Aynur, die am 7. Februar 2005 von ihrem eigenen Bruder ermordet wurde. Die junge Frau wuchs in einer streng religiösen sunnitisch-kurdischen Familie in Berlin auf und folgte deren Traditionen und Gepflogenheiten, bis sie nicht mehr konnte. Die physische und psychische Gewalt, die sie von verschiedenen Seiten in ihrem Leben erfuhr, sind schwer zu fassen. Die Kommentare, mit welcher die verstorbene Aynur ihr Leben beschreibt, sind traurig und verstörend. «Jetzt feiern sie alle, dass ich den Besitzer wechsle», meint sie an einer Stelle im Film.
Da der Film ein Fenster in eine andere Welt schafft, die so weit weg scheint, aber dennoch ganz in unserer Nähe sein könnte, ist er nicht nur sehenswert, sondern auch Horizont erweiternd. Darum soll an dieser Stelle auf eine weitere Beschreibung verzichtet und nur eine Empfehlung ausgesprochen werden.
Seit 20 Jahren auf der Flucht
Der Verein Sabatina Schweiz, der den Filmabend in Zusammenarbeit mit dem Kino Roxy organisierte, wurde von der österreichisch–pakistanischen Menschenrechtsaktivistin Sabatina James gegründet. Die 1982 als Enkelin eines Imams in Pakistan geborene Vereinsgründerin kam mit 10 Jahren mit ihren Eltern und und Geschwistern nach Österreich. «Aufgrund ihrer Integration in die westliche Gesellschaft erlebte sie immer häufiger psychische und physische Gewalt seitens ihrer Familie. Mehrmals musste sie deswegen in einer Zuflucht für Jugendliche untergebracht werden», heisst es auf der Webseite des Vereins. Als sie dann minderjährig mit ihrem Cousin in Pakistan zwangsverheiratet werden sollte, floh sie trotz Todesdrohungen und konvertierte zum christlichen Glauben. Seit 20 Jahren ist sie nunmehr auf der Flucht vor der eigenen Familie.
Um andere Menschen vor ähnlichen Schicksalen zu bewahren, gründete Sabatina James im Jahr 2006 den Verein Sabatina in Deutschland. Seit 2016 gibt es den Verein auch in der Schweiz, wo er von Franz Müller präsidiert wird. Er habe Sabatina James über einen Bekannten kennengelernt und sei bald darauf angefragt worden, ob er nicht bei der Gründung des Vereins hier in der Schweiz mit von der Partie sein wolle. Und da er von der Sache überzeugt war und sowieso bald in Rente ging, sagte er zu. «Wir machten am Anfang viel Pionierarbeit. Wir bauten eine Administration und ein Netzwerk auf, so dass wir jetzt Opferhilfe und Aufklärungsarbeit leisten können», erklärt Franz Müller.
Der Verein selbst formuliert seine Aufgabe folgendermassen: «Wir setzen uns ein für Toleranz, Respekt und ein gewaltloses, friedliches Miteinander zwischen verschiedenen Religionen und Kulturen. Unsere Vision ist eine Gesellschaft, in der Entmündigung und Entrechtung keine Unterstützung mehr finden.»
Für uns Schweizer:innen sind solche Werte eine Selbstverständlichkeit, Entmündigung und Entrechtung seit Langem Fremdwörter. Dass dem jedoch nicht immer so war, erwähnte Sela Esslinger in ihrem kurzen Referat nach Ende des Filmes: «Bis in die 50er Jahre war es auch hier in der Schweiz verboten, zwischen den Konfessionen zu heiraten. Darum versuchen wir den Betroffenen Mut zu machen und dort praktisch zu helfen, wo es nötig ist.»
Andere Länder, andere Sitten
«Kann ein Mord die Ehre der Familie retten? Kann jemand zur Heirat gezwungen werden?», sind zwei Fragen, die Sela Esslinger in den Raum warf, als sie ihr Referat begann. Nach den hiesigen Lebensmustern sei dies zu verneinen, doch sehe dies an vielen Orten in Asien, Südamerika und Afrika anders aus. Aus ihrem Beratungsalltag wisse sie jedoch, dass auch hier bei uns Migrantinnen mit dieser Problematik konfrontiert werden. «Das Abwägen zwischen Familie und Selbstbestimmung ist in solchen Fällen die grosse Herausforderung. Diese Zerrissenheit führt in vielen Fällen dazu, dass die Bereitschaft für einen klaren Schnitt fehlt», erklärt die Leiterin der Nothilfestelle von Sabatina Schweiz.
Deshalb sei es wichtig, dass Betroffene nicht allein gelassen werden. Und genau hier komme der Verein Sabatina Schweiz ins Spiel, so Sela Esslinger: «Wir wollen eine Brücke über Kulturen schaffen. Wir wollen unseren Klient:innen in ihr selbstbestimmtes Leben helfen.»
Und sie forderte auch die Besucher:innen im Kinosaal dazu auf, die eigenen Werte vorzuleben und so selbst einen Beitrag gegen Zwangsheirat und Ehrgewalt zu leisten: «Lassen sie diese Person nicht allein, bieten sie ihr ihre Freundschaft an. Denn da können wir Familie sein.»
Von David A. Giger