14.09.2023 14:19
Aus einer Midlife-Crisis geboren, zum Musik machen berufen
Wer die Kernbeissers schubladisieren will, der braucht dazu mindestens eine Kommode. Noch besser geeignet für dies wäre jedoch ein Apothekerschrank. Denn die Kernbeissers tanzen musikalisch auf allen Hochzeiten, sind eine gut proportionierte Mischung aus Kabarett, Schlager, Schnitzelbank und Chanson.
Erlen Wer die Wohnung der Kernbeissers in Erlen betritt, dem wird sofort klar, dass hier Weltbürger zu Hause sind. Ein bisschen Haiti, ein bisschen Frankreich und ganz viel Afrika. Aus dem Saarland, der Heimat von Inga und Wolf Buchinger, wie die Kernbeissers mit bürgerlichem Namen heissen, sticht nichts ins Auge. «Wir sind seit 1972 in der Schweiz, denn das Saarland war damals noch hinter dem Mond», erzählt Wolf Buchinger.
Insbesondere meint er damit die Zustände, die im Bildungswesen im zum französischen Sektor gehörenden Saarland herrschten und die für ihn als Lehrer absolut inakzeptabel waren: «Die Vorgesetzten in den Schulen waren alte Nazis und so war die Prügelstrafe als Erziehungsmethode akzeptiert. In Brennpunktschulen gab es jeweils zwei Lehrer pro Klasse – einer hat gelehrt und einer hat geprügelt.»
Somit war die erste Anstellung am Rosenberg in St.Gallen für die beiden Lehrer nicht einfach nur ein Abenteuer, das ihnen 50 Franken mehr Lohn bescherte, sondern vor allem auch eine Flucht vor mittelalterlichen Bildungs- und Erziehungsmethoden.
Musik verbindet
Dass sich die beiden Kernbeissers beim Musizieren kennengelernt haben, überrascht nicht. Ihre erste Interaktion hätte jedoch nicht vermuten lassen, dass dies der Anfang einer mittlerweile 55-jährigen Ehe sein wird. Denn der neuen Bratschen-Spielerin im Universitätsorchester Saarbrücken passte es überhaupt nicht, dass der Pauken-Spieler hinter ihr in den Pausen Faxen machen musste. «Lass das, ich hass das!», habe sie ihm entgegnet, erinnert sich Inga Buchinger. Und dieses Temperament kombiniert mit einem mit blonden Haaren geschmückten Hinterkopf muss dem Pauker so gefallen haben, dass er der Bratschen-Spielerin bald den Hof machte.
Nach Abschluss des Studiums – sie studierte Pädagogik, er Geografie und Germanistik – rückte die Musik wieder etwas in den Hintergrund und es folgten Anstellungen als Lehrpersonen im Saarland und in St.Gallen. Inga Buchinger war unter anderem auch als Schulleiterin für Integrationsklassen bei der Stadt St.Gallen tätig, erzählt sie: «Während des Jugoslawien-Kriegs war ich für 21 Klassen zuständig.»
Nach 20 Jahren beruflicher Tätigkeit in St.Gallen war dann aber der Zeitpunkt für ein neues Kapitel gekommen. «Ich hatte eine Midlife-Crisis und brauchte etwas Neues», erklärt Wolf Buchinger. Und da Musik schon immer eine wichtige Rolle im Leben der Buchingers spielte, genoss sie auch bei der neuen Sinnessuche Priorität: «Machen wir doch etwas zusammen», habe er seiner Frau vorgeschlagen, sagt Wolf Buchinger und ergänzt: «Und so haben wir angefangen, unsere eigenen Texte zu schreiben und Melodien zu komponieren.» Dies war die Geburtsstunde der Kernbeissers, die seither «voll nebenberuflich» Musik machen und diese in die Welt hinaus trugen.
Auf Tour mit dem Goethe-Institut
«Dann kam der Glücksfall Goethe-Institut. Denn die haben händeringend deutsche Gruppen gesucht, die etwas auf Französisch machten», erzählt Wolf Buchinger. Und da sie beide schon seit der Primarschule Französischunterricht hatten und viele Chansons zu ihrem Repertoire gehörten, folgten viele Reisen nach Senegal, Madagaskar und Mali. Selbst in den tiefsten Dschungel Zaires, des heutigen Kongos, kamen sie. Dort habe Wolf Buchinger auch seine grösste Blamage als Lehrer erlebt, als er einer Schulklasse «Frère Jacques» lehren wollte: «Kurz nachdem ich angefangen hatte, ihnen das Lied beizubringen, wurde ich von einigen unterbrochen und um etwas Geduld gebeten. Dann begannen sie das Lied vorzutragen – perfekt vierstimmig!»
Insgesamt über ein Jahr waren sie in verschiedenen Ländern Afrikas auf Tour, lernten Land und Leute kennen und machten unzählige Erfahrungen. «Konzerte dauern eine Stunde – und nach drei Stunden sind sie beendet», fasst Wolf Buchinger die vielen Auftritte zusammen. Doch es gibt so viele Episoden, dass man darüber ein Buch schreiben könnte. Und genau dies wird Wolf Buchinger wahrscheinlich auch machen, denn er hat nicht nur 40 Jahre für den Nebelspalter geschrieben, sondern auch über ein Dutzend Bücher selbst veröffentlicht - vom Ratgeber über den Krimi bis hin zu einem Buch über seine Frau, aus deren Perspektive. «Ich habe immer Zeit zum Schreiben. Dabei ist es äusserst praktisch, wenn der Verlag im Nebenzimmer ist», erklärt Wolf Buchinger. Gemeint ist damit seine Frau Inga, die nicht nur Lektorat und Korrektorat übernimmt, sondern auch die erste und schärfste Kritikerin seiner Texte ist.
Kernbeissers?
Kernbeisser haben ein buntes Federgewand und einen grossen, starken Schnabel, mit den er auch Nahrhaftes an Orten findet, wo es andere nicht tun. Die Beschreibung passt - für die geflügelten Kirschkernbeisser sowie für das Musik-Duo aus Erlen. Denn genau dies machen die Kernbeissers, zum Beispiel in ihren «Schlupf-Liedern». «Verliebt in die Waschmaschine» oder «Beim Blick in einen Spiegel, da könnt’ ich manchmal schrei’n» findet dort Nahrhaftes, wo es nicht erwartet wird. Wohl auch wegen dieser Fülle an Ressourcen ist es den Kernbeissers gelungen, ein Repertoire von über 120 eigenen Songs zu komponieren und einzuspielen.
Und die «Kernis», wie sie sich selbst manchmal nennen, sind auch sonst ein eingespieltes Team. Ob beim gemeinsamen Tandem-Velo fahren in Frankreich oder beim Mini-Pingpong spielen im Wohnzimmer - sie reiten immer die gleiche Welle, haben den gleichen Takt. Dies mag ein bisschen an den verschiednen identischen Uhren liegen, die sie jeweils eine Woche lang tragen. Viel mehr jedoch daran, dass sie die Harmonie ihrer Lieder auch in ihren Alltag zu bringen vermögen. Musik gehört zum Leben der Kernbeissers. Wie zum Beispiel während der Corona-Zeit, als sie wohl einige der wenigen Musikgruppen waren, die überbucht waren. «Wir haben Ekstasen erlebt. Es war einfach eine Riesenfreude», erinnert sich Inga Buchinger an die Zeit, in der sie 44 Altersheime besuchten und gratis vor deren Türen Konzerte spielten.
Obwohl man sie damals in den Medien zu den «Parkplatzrockern» erkoren hatte, wird die Bezeichnung den Kernbeissers nicht gerecht. Denn, wie bereits erwähnt, ist nicht nur eine Schubladisierung ihrers Musikstils kaum möglich, sondern auch der «Parkplatz» ist viel zu eng definiert. Denn die Kernbeissers spielen dort, wo man ihnen Gehör schenkt - sei dies im Dschungel, der Wüste oder eben auf einem Parkplatz. Denn Musik war und ist für sie viel mehr als nur eine Leidenschaft und ein Weg, der Gesellschaft etwas zurückzugeben: «Wir machen Musik, damit wir nochmals etwas erleben.»
Von David A. Giger
www.kernbeissers.ch